"AJ and the Queen": Die Queersumme der Gesellschaft (2024)

Schon wieder eine Dragshow, diesmal als Sitcom-Serie auf Netflix: "AJ and the Queen" mit RuPaul erzählt Diversität als raffinierten Roadtrip durch Trumps USA.

Eine Rezension von Adrian Daub

"AJ and the Queen": Die Queersumme der Gesellschaft (1)

In den vergangenen zehnJahren hat sich das Fernsehen rasant verändert. Seit Streaminganbieter auf denMarkt getreten sind, wird so viel produziert wie nie zuvor. ImUS-amerikanischen Diskurs hat sich für diese medienhistorische Ära dieBezeichnung "Peak TV" durchgesetzt:Das Publikum wird von der Programmvielfalt nahezu erdrückt. Andererseits siehtes zum ersten Mal, wie eine reale gesellschaftliche Vielfalt tatsächlichfilmisch abgebildet wird. Netflix zum Beispiel bemüht sich um Diversität und machtseinen tendenziell jungen und akademischen Zuschauern bewusstidentitätspolitische Angebote: Dear WhitePeople, Pose, The Politician, Orange Is The New Black, Atypical,um nur wenige Serien zu erwähnen, daneben zahlreiche Spielfilme undDokumentationen mit ähnlicher Ausrichtung. Mögen Themen und Protagonisten derSendungen neu erscheinen, ihre Umsetzung ist es nicht. Hier trifft zu, was derFilmkritiker Dwight Macdonald 1959 "Midcult" nannte. Die Netflix-Ästhetik gibtzwar vor, neue Akzente zu setzen, will aber eigentlich nur den algorithmischermittelten kleinsten gemeinsamen Nenner treffen.

Vor diesem Hintergrund istes besonders interessant, wie sich die neue Serie AJ and the Queen in diese Bedingungen fügt. Offensichtlich machtsich die Sitcom, geschaffen vom Drag-Star RuPaul Charles und Michael PatrickKing (Showrunner von Sex and the City),das Interesse an Durchlässigkeit und Diversität zu nutze. RuPaul wurde mitseinem Casting-Format Drag Raceweltberühmt, ihm verdankt die Szene ihre momentane Sichtbarkeit. Wie aberverträgt sich der Netflix-Midcult mit der anarchistischen Ästhetik echter Dragshows?Das ist nämlich die Welt, der AJ and theQueen verpflichtet ist. Und die bezieht ihre faszinierende Energie undLebendigkeit traditionell aus den beiden Antagonismen, gegen die Macdonaldseinen Midcult überhaupt erst positioniert hat: Drag ist Trash und Avantgardein einem, Midcult ist weder das eine noch das andere. Die Lösung, die AJ and the Queen findet, ist genial: Beialler thematischen Progressivität wendet sich das Format alten Filmgenres und-strukturen zu.

Robert, genannt Ruby Red,ist eine erfolgreiche aber mehr als mittelalte Dragqueen in New York, dieendlich genug Geld gespart hat, um ihren eigenen Schuppen aufmachen zukönnen. Dann wird sie um ihr Geld betrogen und muss im Wohnmobil vonSchwulenkneipe zu Schwulenkneipe tingeln, um sich über Wasser zu halten. DieSerie verbringt dabei ebenso viel Zeit in den Bars (in denen allerleiDrag-Stars aus RuPauls eigener Show auftreten), wie auf den Campingplätzen, inden Kleinstädten und Kneipen dazwischen.

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In den Dragbars schlägt eindeutigdas Herz der Serie – seien sie traurig, verträumt, erfolgreich oderabgewirtschaftet. AJ and the Queen isteine Liebeserklärung an die Szeneinstitutionen im Nirgendwo, an dieLokalmatadoren unter den Dragqueens. Die Dragkultur erscheint hier nicht als marginalisierter Teil der USA, als Eigenheit der großen Metropolen und ihrerSchwulenviertel, sondern als Queersumme aller Winkel dieser Gesellschaft, einlebender, schriller Beweis, dass die instinktive Offenheit, die sie verkörpert,so amerikanisch ist wie Wohnmobile und Barbecue.

Das mag alles ein wenignach Wim Wenders oder Jim Jarmusch klingen. Die Serie unterzieht aber denunterschwelligen Neorealismus des amerikanischen Roadmovie einer dragtypischenVerfremdung. Denn mit im Wohnmobil reist ein kleines Mädchen namens AJ (AmberJasmine), das zu seinen Großeltern nach Texas will. Verfolgt werden AJ and the Queen von zwei Ganoven,gespielt von Josh Segarra und dem Wayne’sWorld-Star Tia Carrere.

Mit solchen Elementen wirdAJ and the Queen zu einer astreinenAchtzigerjahre-Road-Comedy. Die Entwicklungen und Konflikte sind relativvorhersagbar, aber gerade das macht diese Form ja aus: Natürlich müssen AJ undRobert aus einer Bar fliehen, weil die Schurken auftauchen. Natürlich gibt esVerfolgungsjagden. Natürlich sehnt sich die kleine AJ nach einer Familie, wiesie Ronald Reagan und Steven Spielberg propagieren. Ein niedlicher Hund, einkleines Kind, das schauspielerisch etwas irrlichtert – die Serie führt sogareinen ziemlich aufgesetzten Anti-Drogen-Plot ein – mehr Achtzigerjahre gehtnicht.

Die Szenen in den Dragclubs zeichnen sich durch die unschmierige Schmierigkeit aus, die man ebenfallsaus Achtzigerjahrefilmen kennt. Man denke an die Kaschemme Double Deuce in Road House (1989), oder die ChickenRanch in Das schönste Freudenhaus inTexas (1982). Dahinter steckt mehr als nur die Netflix-Optik: Die Seriezitiert eine antiquiert wirkende Authentizitätsgeste, die damals schon wenigüberzeugend war und heute putzig wirkt, und ersetzt den anarchischenSurrealismus einer Dragshow durch den unbeabsichtigten Surrealismus einerAchtzigerkomödie.

Ähnlich funktioniert auchdie Politik in AJ and the Queen: Ganznach dem Achtzigerjahreprinzip fehlt sie bei oberflächlicher Betrachtungkomplett. Aber das war ja auch schon bei RuPaul’sDrag Race so. Drag an sich ist politisch, und das wissen die Macher derSerie. Robert "Ruby Red" fährt kreuz und quer durch Trumps USA und trifft aufgute und auf böse Menschen, aber es geht eben nicht ständig darum, dass Robert eineschwule Dragqueen ist. Er gewinnt in einer äußerst heterosexuellen Bar beieinem Wet-T-Shirt-Contest viele Freunde und macht sich in Schwulenkneipenunbeliebt. Ein Waffennarr, der mit seinem möglicherweise transsexuellen Sohn nichtklarkommt, quittiert Roberts Rede über Toleranz mit der Bemerkung, er werdesich schon daran gewöhnen, aber gefälligst erst, wenn er dazu bereit sei und bestimmt nicht, wenn eine New Yorker Dragqueen es wolle. Die Akzeptanz mag langsam oder sofortkommen – aber in der Welt von AJ and theQueen kommt sie ganz bestimmt.

Wie es sich für eine guteAchtzigerjahre-Sitcom gehört, lernt in jeder Folge jemand etwas dazu, über Toleranz,über Selbstvertrauen, über Identität. Damals war das Teil einer Politik derNettigkeit (niceness), die so tat,als könne man Probleme wie Rassismus und Armut aus der Welt schaffen, wenn dieMenschen nur ein bisschen netter zueinander wären. An dieser Annahme hält AJ and the Queen fest, unterstreichtaber bei jeder Gelegenheit, dass die Serie in einer Fantasiewelt spielt. Undbleibt damit einem ästhetischen Grundprinzip der Dragkultur treu: Wenn wir unsin dieser kleinen Kunstwelt gegenseitig stärken können, uns selber achten unduns von anderen bejubeln lassen können, warum dann nicht auch in der Welt dadraußen?

"AJ and the Queen": Die Queersumme der Gesellschaft (2024)
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Author: Annamae Dooley

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